Lächelnde Langsamkeit

 

Die Zeit zwischen den Jahren und die ersten Tage im Januar empfinde ich von jeher als besondere Zeit, als ob die Uhren langsamer gehen würden. In dem Buch Freude von andere Zeiten.de  ist mir diese passende Geschichte dazu begegnet:

Das Dreifingerfaultier ist ein aüßerst faszinierendes Geschöpf. Im Grunde ist die Trägheit sein einziger Wesenszug. Es schläft im Durchschnitt zwanzig Stunden am Tag. Am regsten ist das Faultier bei Sonnenuntergang, wobei das Wort „rege“ hier mit größtmöglicher Relativität zu verstehen ist.

Am Boden kriecht es, wenn es motiviert ist, mit einem Tempo von 250 Metern die Stunde zu seinem nächsten Baum, das heißt 440 Mal langsamer als eine motivierter Gepard. Unmotiviert legt es vier bis fünf Meter die Stunde zurück. Trifft man in freier Wildbahn auf eine schlafendes Dreifingermaultier, so genügt es in der Regel, es zwei bis drei Mal anzustoßen, um es zu wecken. Es wird sich dann schläfrig in jede erdenkliche Richtung umsehen, nur nicht in  die, aus der der Stoß kam.

Was das Gehör angeht, ist ein Faultier nicht taub, es interessiert sich nur nicht für Geräusche. Und den etwas höher entwickelten Geruchssinn sollte man auch nicht überschätzen. Es heißt, sie können abgestorbene Äste riechen und dann meiden, doch Bullock berichtet, dass Faultiere häufig zu Boden fallen, weil sie sich an abgestorbenen Ästen festhalten. Man fragt sich, wie ein solches Tier überleben kann. Er überlebt, weil es so langsam ist. Trägheit und Schläfrigkeit schützen es vor allen Gefahren, sie sorgen dafür, dass ein Jaguar oder Ozelot das Faultier überhaupt nicht wahrnehmen.

Das Dreifingerfaultier lebt in vollkommenen Einklang mit seiner Umgebung. „Stets hat es ein gutmütiges Lächeln auf den Lippen“, schreibt Tirler. Ich bin keiner, der leichtfertig menschliche Charakterzüge auf Tiere projiziert, doch viele Male, wenn ich eine ruhendes Faultier betrachtete, hatte ich den Eindruck, dass ich in der Gegenwart eines an den Füßen hängenden, tief in seiner Meditation versenkten Yogis war oder eines ganz dem Gebet ergebenen Eremiten, in der Gegenwart von Wesen und Weisheit.

(Yann Martel)

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